Blicken auf eine lange, zunächst wechselhafte und am Ende noch sehr erfolgreiche Saison zurück: Eintracht-Sportdirektor Michael Stock (li.) und Cheftrainer Stefan Neff.

"Die große Lehre ist: Du brauchst einen guten Saisonstart"

Die Saison in der 2. Bundesliga war lang. Sie war ereignisreich. Und sie war aus Sicht des VfL Eintracht Hagen eine veritable Berg- und Talfahrt. Seit dem Wochenende befindet sich die Mannschaft nun im wohlverdienten Urlaub. Eintracht-Coach Stefan Neff wird mit der Familie in der Türkei ausspannen, bevor es aber in den Flieger gen Süden geht, stand Neff zusammen mit Sportdirektor Michael Stock noch im großen Saisonabschluss-Interview Rede und Antwort.

Die Saison 2022/23 ist Geschichte, die Mannschaft hat dabei eine schwache Hinrunde, aber auch ein überragendes letztes Drittel gespielt. Es mag etwas ketzerisch klingen, aber: Warum nicht gleich so?
Michael Stock: "Wenn Handball so berechenbar wäre, dann wäre es in der Tat einfach, eine Saison durchzuplanen. Wir sind mit immer neuen Herausforderungen konfrontiert worden. Das fing in der Vorbereitung mit Verletzungen an, hinzu kam, dass wir einige Spieler zu integrieren hatten. Diese Integration hat teilweise länger gedauert, als wir uns das alle vorgestellt hatten in Verbindung mit dem Verletzungspech. Ich erinnere nur an das Spiel bei TuSEM Essen, als wir zehn (!) verletzte Spieler hatten. Das hat dann dazu geführt, dass die Mannschaft nicht diese Stabilität hatte, die wir uns erhofft hatten. Eine schlechte Hinrunde war die Folge. Dass das bei anderen Mannschaften genauso sein kann, hat man beispielsweise bei Aufsteiger HBW Balingen gesehen, der gegen uns auch ohne vier, fünf verletzte Spieler antreten musste und dann ebenfalls nicht die gewohnte Leistung abrufen konnte. Das soll keine Entschuldigung sein, aber ein Stück weit eine Erklärung, warum die beiden Runden so unterschiedlich ausgefallen sind. Ein ganz wesentlicher Faktor war im Januar zudem die Rückkehr von Alexander Becker, der uns eine Menge Stabilität gegeben hat. Aber auch alle anderen Spieler, die langfristig ausgefallen waren, haben uns durch ihre Rückkehr geholfen. Die Rückrunde spricht dann ja auch für sich. Wir hoffen für die neue Saison, dass wir mit weniger Verletzungen durchkommen."
Stefan Neff: "Dieses Thema ist natürlich eines, was man ziemlich ausdehnen kann, weil es einfach eine sehr lange Saison war. Mein Bild bleibt das gleiche: Wir haben eine sehr gute erste Saison nach dem Aufstieg gespielt, hatten dann einen kleinen Umbruch, haben es vielleicht auch ein Stück weit unterschätzt, dass die Integration nicht immer so gut läuft, wie das zum Beispiel bei Pouya Norouzi oder Philipp Vorlicek der Fall war. Der eine oder andere Spieler braucht eben doch ein wenig mehr Zeit, um in diesem System anzukommen. Das haben wir an den ersten Spieltagen zu spüren bekommen. Dann ist es wie so oft im Sport: Das Selbstvertrauen fehlt, wenn Du mit Niederlagen startest. Nach acht, neun Spieltagen haben wir uns sportlich gefangen, hatten dann das Riesenpech mit den Verletzungen, so dass wir nicht konstant punkten konnten. Das Bild der Hinrunde war somit ein eher negatives, wir haben uns aber über den Winter gerettet. Der Januar tat dann gut. Wir haben hart trainiert und hatten mit Alexander Becker einen wichtigen Rückkehrer. Dann mussten wir etwas Geduld beweisen, weil wir auswärts schon mehrfach ordentlich gespielt, aber trotzdem noch knapp verloren haben. Dann kam aber unsere Zeit, wir haben gezeigt, zu was wir in der Lage sind. In den letzten Spielen hat man  gesehen, dass es mit Selbstvertrauen auch für die Spitzenteams reichen kann. Ich finde, dass die Mannschaft sehr attraktiven Handball gespielt hat, die Zuschauer haben das honoriert."  

Die Saison war mit 38 Spielen extrem lang und hatte sehr unterschiedliche Phasen. Wenn ihr Rückblick und Ausblick auf die neue Serie zusammenführt: Gibt es Dinge, die ihr gelernt habt in dieser Saison? Oder Entscheidungen, die ihr anders treffen würdet?
Stefan Neff: "Die erste Lehre, die wir gezogen haben, ist sicherlich, dass wir künftig deutlich früher mit der Vorbereitung beginnen werden, weil wir gelernt haben, dass man Zeit, die einem hinten raus fehlt, nicht wieder gutmachen kann. Wir wollen uns einfach etwas Zeit verschaffen, um 100-prozentig da zu sein, wenn die Saison los geht. Das ist die große Lehre: Du brauchst einen guten Saisonstart, um sofort drin zu sein. Wir haben jetzt erlebt, was es bedeutet, einen schlechten Start zu haben. Dem läufst Du die ganze Zeit hinterher. Entsprechend müssen wir jetzt anders gewichten. Unser Auftaktprogramm in der neuen Saison wird wieder hammerhart werden, das steht schon fest. Wir werden mit vielen Top-Teams gleich zu Beginn zu tun haben. Da müssen mehr Punkte her als 2:12. Natürlich wird da auch mal eine Niederlage dabei sein. Das ist in dieser Liga so. Auf der anderen Seite haben wir gelernt, dass Ruhe und Geduld gute Begleiter sind. Das Vertrauen darf auch in schweren Zeiten nicht verloren gehen. Trotz der schwierigen Situation gab es keinerlei Zerwürfnisse - weder intern noch extern in der Öffentlichkeit. Das ist ein hohes Gut, das wir uns nicht nehmen lassen dürfen. Da haben wir tolle Charaktere in der Mannschaft, die intern mitgestalten. Dieses gegenseitige Vertrauen hat uns gut getan."  
Michael Stock: "In der Tat gibt es in jeder Saison im Rück- und im Ausblick Dinge, die man gelernt hat und die es zu verbessern gilt. Diese Dinge werden wir in unserem Führungsgremium besprechen, so wie wir das im übrigen auch nach der Hinrunde getan haben, als wir jeden Stein umgedreht und geprüft haben: Wo können wir der Mannschaft helfen? Wo können wir unterstützen? Wo können wir Dinge optimieren? Vielleicht hat auch das ein Stück weit geholfen, dass die Rückrunde so stark war. Fakt ist, dass wir das auch jetzt wieder tun werden. Diese Punkte werden wir - wie immer - dann intern behandeln und umsetzen. Es ist ein ständiger Prozess. Das Gute ist der Feind des Besseren..."

Wenn ihr einen Höhepunkt und einen Tiefpunkt der Saison 2022/23 benennen sollt - welche sind das?
Michael Stock: "Die Saison hatte ganz, ganz viele Höhen und auch ganz, ganz viele Tiefen. Jede einzelne Verletzung eines Spielers ist ein Tiefpunkt. Jeder einzelne Sieg entsprechend ein Höhepunkt. Aber vielleicht kann man das Wechselbad der Gefühle aus dem Hinspiel gegen die Wölfe Würzburg als schönes Beispiel nehmen. Der absolute Tiefpunkt war zur Halbzeit der 10-Tore-Rückstand und der absolute Höhepunkt war es dann direkt, diesen Rückstand noch in einen Sieg zu drehen. Das war ein riesiges Auf und Ab innerhalb von 60 Minuten, wo ich mir heute noch die Frage stelle: Wie kann diese erste Halbzeit sein? Und wie kann diese zweite Häfte sein? Aber das ist eben Handball..."
Stefan Neff: "Da tue ich mich sehr leicht. Tiefpunkte waren die Hinspiele in Dormagen und in Essen. Die waren geprägt von technischen Fehlern, wir waren völlig unterlegen. Höhepunkte waren natürlich das Summer-Game gegen Hüttenberg in Iserlohn vor mehr als 3500 Zuschauern, die ganze Atmosphäre und der Spielverlauf. Und dann zum Ende hin die Siege in Balingen und jetzt zu Hause gegen Nordhorn, die noch einmal die Kirsche auf der Torte waren. Das sind alles Beispiele, die belegen, wie es läuft, wenn man keine Leistung bringt und wie es läuft, wenn man vollgepumpt ist mit Selbstvertrauen."

Mit Pouya Norouzi ist der "Spieler der Saison" beim Fan-Fest ausgezeichnet worden. Eine Würdigung, die außerhalb jeder Diskussion steht. Aber es gibt ja auch die "stillen Stars" einer Mannschaft, die nicht immer im Vordergrund stehen. Wer wäre das für Euch?
Stefan Neff:"Zu Pouya gibt es eigentlich gar keine Worte mehr zu finden. Man merkt, wie das Publikum ihn annimmt, innerhalb der Mannschaft gibt es großen Respekt für ihn. Und wie sehr er uns hilft, sieht man ja Woche für Woche. Ich bin als Trainer stolz, mit solch einem Spieler zusammen arbeiten zu dürfen. Auf der anderen Seite bin ich stolz auf das ganze Team, weil es tolle Jungs sind. Deshalb ist es fast unfair, da noch jemanden herauszuziehen. Wenn ich es dennoch muss, dann würde ich Pierre Busch nennen, der über ein halbes Jahr sowohl im Training als auch im Spielbetrieb auf seiner Position so gut wie alleine war. Pierre hat da eine riesengroße Last auf seinen Schultern getragen und eine hervorragende Saison gespielt. Deswegen ist er für mich auch einer der herausragenden Spieler dieser Saison. Mit Tilman Pröhl hatten wir zudem wieder den absoluten Dauerbrenner, der alle Spiele gemacht hat - trotz gesundheitlicher Schwierigkeiten. Das zeigt, was die Jungs im Hintergrund auf sich nehmen. Das gilt übrigens für alle Spieler. Mein Dank gilt auch der gesamten medizinischen Abteilung. Wir hatten so viele Verletzte und so viele Entscheidungen zu treffen. Da musste die medizinische Abteilung eine Menge Verantwortung übernehmen. Und unseren Busfahrer Michael Koch möchte ich nennen. Wir hatten viele weite Fahrten, sind immer sicher und pünktlich angekommen. Auch Michael ist ein wichtiger Teil des Teams."
Michael Stock: "Ich gehe da voll mit. Dass Pouya der 'Spieler der Saison' ist, ist absolut verdient. Die Konstanz, die er auch in dieser Saison wieder abgeliefert hat - das ist wirklich erstaunlich. Es gibt ganz viele 'stille Stars' in der Mannschaft, die an irgendeiner Stelle einen wesentlichen Beitrag geleistet haben. Ich möchte da eigentlich gar keinen Spieler herausheben, sondern finde beispielsweise, dass man die Arbeit, die unser Betreuer Alfredo Gulino verrichtet, nicht hoch genug bewerten kann. Er hilft bei Kleinigkeiten und bei größeren Themen gleichermaßen unglaublich. Wenn man von 'stillen Stars' spricht, sollte man Alfredo an dieser Stelle erwähnen."

Die personelle Fluktuation bei der Eintracht in diesem Jahr ist sehr gering. Tim Stefan verlässt den Verein, Niclas Pieczkowski kommt neu hinzu. Sind Stand heute noch weitere personelle Aktivitäten geplant - auch vor dem Hintergrund, dass mehrere Spieler noch längerfristig ausfallen werden?
Michael Stock:
"Zunächst einmal ist es gut, dass wir außer Tim keinen Spieler verlieren und 'nur' Niclas Piczkowski ins Team integrieren müssen, weil wir so auf eine sehr eingespielte Mannschaft zurückgreifen können. Auf der anderen Seite beobachten wir immer den Markt. Wenn noch irgendetwas passieren würde, wo wir sagen: Da können wir nicht wegschauen, dann würden wir uns damit beschäftigen. Aber eigentlich ist die Arbeit getan. Es wird dann eher in der zweiten Jahreshälfte darum gehen, die Planungen über die Saison hinaus voranzutreiben. Es ist natürlich so, dass wir weiterhin Langzeitausfälle zu beklagen haben. Aber diese Lücken haben wir ja schon vor der Saison geschlossen."
Stefan Neff: "Ich möchte ergänzen, dass wir noch nicht wissen, wann Damian Toromanovic zurückkommt. Das ist immer noch offen. Es kann sein, dass er zum Vorbereitungsstart wieder dabei ist, es kann aber auch sein, dass es noch lange dauert. Das ist unklar. Deshalb müssen wir beobachten und überlegen, wie wir diese Situation lösen. Ich habe es gerade schon gesagt: Pierre Busch war ein halbes Jahr auf sich alleine gestellt. Da müssen wir ihn unterstützen. Weil wir mit Tim Stefan und Niclas Piczkowski diesmal ja nur 1:1 tauschen, dürfte die Integration jetzt nicht so viel Zeit beanspruchen. Andererseits wird Niclas ein sehr zentraler Spieler sein, deshalb haben wir genügend Aufgaben, die wir angehen müssen."

Vor der jetzt beendeten Saison sind mehrere Regelmodifizierungen eingeführt worden: Wie beurteilt ihr im Rückblick die Sinnhaftigkeit?
Michael Stock: "Regeländerungen hat man zu akzeptieren - ob man die nun gut findet oder nicht... Ich glaube, dass durch die Änderungen das Spiel noch einmal schneller geworden ist, was den Sport noch attraktiver macht. Alles, was uns als Sportart attraktiver macht oder wirken lässt, finde ich gut. Wir haben diese Dinge gut angenommen. Unser Spiel ist auf Geschwindigkeit ausgelegt, wir haben das gut adaptiert. Mal schauen, was in den nächsten Jahren noch auf uns zukommt."  
Stefan Neff: "Ich schließe mich da an. Durch die schnelle Mitte und die vier Pässe im passiven Spiel hat die Geschwindigkeit noch einmal zugelegt. Diese Punkte sind sinnvoll. Allerdings müssen wir auch aufpassen, dass da nicht überdreht wird. In Sachen Tempo ist das Spiel jetzt ausgereizt. Dieses Tempo bei 38 Spieltagen ist eine extreme Belastung. Wir als Mannschaft haben attraktiven Handball geboten. Da haben uns die Regeländerungen geholfen. Das ist alles in Ordnung. Auf Dauer hätte ich den Wunsch, den siebten Feldspieler abzuschaffen. Handball ist in erster Linie 6-gegen-6, und wenn es Zeitstrafen gibt, gilt es eben, Unterzahlsituationen zu überstehen."

Michael, Stefan - vielen Dank für das Gespräch!